„Ein Kind wie Moritz ist ein Geschenk“ – Interview mit Gaby Freiwald über das Leben mit ihrem Sohn mit Downsyndrom

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Frau Freiwald, vor 40 Jahren haben Sie Ihren Sohn Moritz zur Welt gebracht – und kurz danach die Diagnose Downsyndrom erhalten. Erinnern Sie sich noch an diesen Moment?

Ja, sehr genau. Ich war Lehrerin an einer Grundschule, gerade im Mutterschutz – und voller Vorfreude auf mein zweites Kind. Moritz kam ein paar Wochen zu früh auf die Welt, war ansonsten aber ein gesunder Junge. Aber schon im Kreißsaal gab es erste Hinweise, dass etwas anders war. Die Ärzte waren zurückhaltend, aber ich merkte sofort: Irgendetwas stimmt nicht.

Wie haben Sie die Diagnose erfahren?

Ein Arzt kam zu mir ins Zimmer und sagte ganz sachlich: „Ihr Sohn hat das Downsyndrom.“ Ohne viel Erklärung, ohne Begleitung. Es war wie ein Hammerschlag. Ich hatte als Lehrerin viele Kinder unterrichtet, aber ich war nie mit Menschen mit Behinderung in Kontakt gekommen. Ich war vollkommen unvorbereitet.

Wie haben Sie reagiert?

Ich habe geweint. Ich war überfordert, voller Ängste und Fragen. Wie wird sein Leben aussehen? Wir wird sich unser Leben dadurch verändern? Ich hatte das Gefühl, in ein völlig unbekanntes Land geworfen worden zu sein. Aber mein Mann – ich werde das nie vergessen – nahm mich in den Arm, schaute mich an und sagte mit einem Lächeln: „Nun heul nicht – dann muss er zumindest nicht zur Bundeswehr.“ Es war sein liebevoller, humorvoller Weg, mir die Angst zu nehmen. Und es hat funktioniert.

Wie ging es dann weiter?

Wir haben schnell gemerkt: Moritz ist in erster Linie unser Kind. Ein kleiner Junge, der gefüttert werden will, der schreit, lacht, getragen werden will. Er war anders, ja – aber er war auch einfach: Moritz. Wir haben beschlossen, ihm alles mitzugeben, was wir geben konnten. Viel Liebe, Förderung, aber auch Freiraum, seine eigenen Wege zu gehen.

Moritz hat auch eine ältere Schwester – wie hat sie das Familienleben geprägt?

Oh ja, unsere Tochter war zweieinhalb, als Moritz geboren wurde. Und ich sage das heute mit einem Augenzwinkern: Sie war in vielem deutlich anstrengender als Moritz! (lacht) Sehr willensstark, sehr fordernd, mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn – da war oft mehr Diskussion als Harmonie. Moritz dagegen war ein sehr ausgeglichenes Kind. Seine Schwester hat ihn von Anfang an geliebt und beschützt, aber sie hat uns als Eltern eindeutig mehr auf Trab gehalten. Diese Erfahrung hat mir gezeigt, dass "einfach" und "schwierig" nicht unbedingt etwas mit einer Diagnose zu tun haben.

Was hat Sie als Mutter in diesen Jahren besonders bewegt?

Ich glaube, es war diese unglaubliche Entwicklung, die Moritz gemacht hat. Anfangs ging vieles langsamer: Das Krabbeln, das Laufen, das Sprechen. Aber mit jedem kleinen Schritt hat er uns gezeigt, dass er will – und kann. Er hat sich so viel erarbeitet, mit einer bewundernswerten Ausdauer. Als er mit sieben Jahren Fahrrad fahren konnte, haben wir ein kleines Fest gemacht. Für andere Kinder vielleicht selbstverständlich – für uns ein riesiger Meilenstein.

Wie würden Sie Moritz heute beschreiben?

Er ist ein sehr lebendiger, lebensfroher Mensch. Moritz liebt es, unter Menschen zu sein. Er ist unglaublich kontaktfreudig, hat eine große Portion Selbstbewusstsein – aber er überschätzt sich auch nicht. Es war mir als Mutter immer sehr wichtig, ihn nicht nur zu fördern, sondern auch zu erden und klarzumachen, wo seine natürlichen Grenzen sind. Ich finde, so fair muss man Menschen mit Behinderung gegenüber sein.

Moritz ist sportlich aktiv, nimmt an Laufwettbewerben teil, schwimmt, spielt Boccia. Und er verreist leidenschaftlich gern, am liebsten in die Natur. Er fühlt sich auch hier in seiner WG mit seinem Mitbewohner Hannes sehr wohl. Als er mit Mitte zwanzig bei uns ausgezogen ist war das natürlich ein großer Schritt, aber es war richtig. Er war bereit, ein selbstständiges Leben zu führen.

Wie war es für Sie, ihn in die Selbstständigkeit zu entlassen?

Ich habe schnell gemerkt: Moritz blüht auf, wenn er sein eigenes Leben führen darf. In seiner WG hat er Verantwortung, Aufgaben, Routinen – und ganz viel Lebensfreude. Die Begleitung durch alsterdorf ist dabei Gold wert. Sie sind sehr zugewandt, achten auf seine Bedürfnisse, aber fördern auch seine Eigenständigkeit. Ich bin unendlich dankbar, dass wir diesen Weg gehen konnten.

Sie haben einmal gesagt, Sie wünschen jedem die Erfahrung, ein Kind wie Moritz zu haben. Warum?

Weil ein Kind wie Moritz das Leben verändert – zum Guten. Ich habe durch ihn gelernt, was wirklich zählt. Geduld, Mitgefühl, Lebensfreude, Ehrlichkeit. Moritz ist nicht perfekt – aber wer ist das schon? Er lebt im Moment, er lacht aus dem Herzen, er liebt ohne Bedingungen. Ich würde lügen, wenn ich sage, dass es immer leicht war. Aber ich würde keinen einzigen Tag missen wollen.

Gab es auch schwierige Phasen?

Natürlich. Wir hatten immer wieder unsere Kämpfe – wie jede Familie. Und auch die Sorge, wie es weitergeht, wenn wir älter werden, ist da. Aber Moritz gibt uns so viel zurück. Seine Art zu leben ist eine tägliche Erinnerung daran, wie kostbar das Leben ist – auch jenseits von Leistung und Perfektion.

Was würden Sie anderen Eltern sagen, die gerade ein Kind mit Downsyndrom bekommen haben?

Atmen Sie durch. Hören Sie nicht auf die Schreckensszenarien, die einem oft ungefragt geliefert werden. Ihr Kind ist in erster Linie: Ihr Kind. Es wird seinen eigenen Weg gehen – mit Ihnen an seiner Seite. Suchen Sie den Kontakt zu anderen Familien, holen Sie sich Unterstützung, aber verlieren Sie nie den Blick für die kleinen Wunder, die jeden Tag passieren.

Und was wünschen Sie sich für die Zukunft von Moritz?

Dass er weiter so selbstbestimmt leben kann. Dass er Menschen um sich hat, die ihn mögen, wie er ist. Und dass er seinen Platz in der Welt behält – einen Platz, an dem er lachen, lieben und leben darf. Und ich wünsche mir, dass unsere Gesellschaft immer mehr erkennt, wie viel Reichtum in der Vielfalt liegt.

Frau Freiwald, danke für dieses offene und berührende Gespräch.


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