Autismus in der Familienhilfe

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Martin Ebersbach arbeitet seit 9 Jahren im ambulanten Team am Eichtalpark (ehemals Teil des Team Wandsbek) und hat sich vor zwei Jahren dazu entschlossen, eine Fortbildung zur Fachkraft für Autismus-Spektrum-Störung (ASS) zu machen. Wir sprechen mit ihm über die Besonderheiten von Menschen mit ASS und wie er als erfahrener Pädagoge mit diesen umgeht.

Was ist Ihre Funktion bei der alsterdorf assistenz ost?

Ich bin Sozialarbeiter und arbeite in der Familienhilfe. Das heißt, ich unterstütze Familien in verschiedenen Problemlagen, entweder, weil es eine Auflage vom Jugendamt gibt oder Familien aktiv nach Hilfe suchen. Je nach der entsprechenden Leistung geht es darum, einzelne Familienmitglieder zu unterstützen, Erziehungsbeistand zu leisten oder im Falle der Familienassistenz ein Familiensystem zu entlasten, weil eine geistige und oder körperliche Behinderung vorliegt.

 

Sie haben sich vor zwei Jahren zur Fachkraft für Autismus Spektrum Störung ausbilden lassen. Wie kam es dazu?

Vor meiner Tätigkeit bei der alsterdorf assistenz ost habe ich länger im klinischen Bereich, also mit akutpsychiatrischen Fällen gearbeitet. Hier habe ich bereits häufig Kontakt zu Menschen mit Autismus Spektrum Störung gehabt. Dabei ist wichtig zu verstehen, dass die ASS in der Regel nicht der Grund für die Klinikaufenthalte ist, sondern eher eine Begleitdiagnose. Häufig hatten die Patienten mit Depressionen zu tun, manchmal auch mit Aufmerksamkeitsstörungen. Eine Depression ergibt sich jedoch häufig aus den Anpassungsschwierigkeiten, die mit der ASS einhergehen.

Ich habe mich schon damals sehr für das Thema interessiert und da ich bei meiner aktuellen Arbeit mit Familien weiterhin viel mit Autist*innen zu tun habe, fand ich es sinnvoll, mich hier fachlich fortzubilden.

Es gibt bekanntlich verschiedene Formen von Autismus. Können Sie diese näher erklären?

Tatsächlich legen wir aktuell weniger wert auf eine klare Angrenzung der Störungsbilder als noch vor einigen Jahren. Das liegt daran, dass die Grenzen oft fließend sind. Grundsätzlich kann man jedoch drei verschiedene Formen des Autismus unterscheiden: den frühkindlichen Autismus, der häufig auch mit einer Intelligenzminderung einhergeht, den High Functioning Autismus, bei dem wir von einer durchschnittlichen Intelligenz ausgehen und dem Asperger-Syndrom, bei dem Betroffene eine überdurchschnittlich hohe Intelligenz aufweisen. Die letzten beiden Formen werden oft erst in fortgeschrittenem Alter diagnostiziert, weil sie weniger auffällig sind. Bei Mädchen und Frauen werden sie darüber hinaus noch seltener diagnostiziert, weil sie allgemein anpassungsbereiter sind und seltener in Opposition gehen. Das bezeichnen wir auch als Camouflaging.

Wie verstehen Sie Ihre Rolle in der Familienhilfe mit vorliegender ASS?

Je nach Leistungsart bin ich entweder persönlicher Assistenz, Berater oder Vermittler für einzelne Personen bzw. das gesamte Familiensystem. Ganz klar sind diese Rollen aber natürlich nie voneinander abzugrenzen. Es ist in jedem Fall wichtig, eine Bindung zu allen Beteiligten, vor allem aber natürlich den Menschen mit ASS aufzubauen. Die Beziehungsarbeit läuft hier oft anders als bei neuronormativen Menschen. Es geht um Struktur und Regelmäßigkeit. Es ist wichtig, dass ich immer zur selben Zeit die Familien besuche. Selbst wenn das betroffene Kind dann mal keinen Bock auf mich hat, bin ich Teil einer wichtigen Routine, die es braucht, um Vertrauen aufbauen zu können. Bricht man mit dieser Routine, zum Beispiel weil man drei Wochen im Urlaub war, fängt man nicht selten wieder bei Null an.

Oft bin ich aber wie gesagt auch Vermittler zwischen Eltern und Kindern sowie zwischen Schulen, Ärzt*innen und Behörden. Beim Thema ASS spielt auch Psychoedukation eine wichtige Rolle, das heißt ich vermittle den Eltern, wie sich die Lebensrealität ihres Kindes anfühlt und wie man sensibel mit dieser umgeht. Das ist vor allem dann wichtig, wenn Veränderungen anstehen, die ein Familiensystem kurzfristig ins Wanken bringen, wie Umzüge, Schulwechsel, etc.

Wie wird eine ASS heute diagnostiziert? Gibt es mehr Diagnosen als früher?

Tatsächlich werden häufiger ASS Diagnosen gestellt, was u.a. daran liegt, dass die Diagnostik immer besser wird. In der Regel findet dies bei einem Psychiater über mehrere Tests und Fragebögen statt. Dabei geht es um die Fremdbeurteilung durch Angehörige sowie im Falle des High Functioning Autismus und des Asperger-Syndroms auch um die Selbsteinschätzung der Betroffenen.

Spannend ist, dass wir noch immer keine eindeutige Ursache für die Störung ausmachen können. Sicher ist nur, dass es sich um eine Hirnorganische Entwicklungsstörung handelt.
Der frühkindliche Autismus fällt wie gesagt oft schon in den ersten Lebensmonaten des Kindes auf, weil es beispielsweise nicht in der Lage ist, die Emotionen eines Elternteils zu spiegeln. Dann gibt es häufig Verdachtsdiagnosen, die im späteren Alter verifiziert werden müssen.
Als Sozialarbeiter*innen stellen wir natürlich keine Diagnosen, sondern arbeiten nur damit.

Inwiefern hat die Fortbildung Ihnen dabei geholfen, Autismus noch besser zu verstehen oder damit umzugehen?

Die Grundlagen waren mir bereits bekannt, ich hatte viel praktische Erfahrung gesammelt. Dennoch setzt man sich noch einmal tiefer mit dem Thema auseinander, entdeckt neue Informationsquellen und beschäftigt sich auch viel mit der aktuellen Forschung.

In Ländern wie den USA, den Niederlanden oder in Skandinavien ist man hier schon deutlich weiter als bei uns. Ein sehr bekannter schwedischer Forscher, Sven Bölte, hat beispielsweise eine wichtige These widerlegt. Bisher ging die Wissenschaft davon aus, dass bei Autist*innen das Gehirnareal, das für Ordnung und Sortierung zuständig ist, besonders ausgeprägt sei, während der kreative Bereich eher unterentwickelt wäre. Bölte hat jedoch herausgefunden, dass Autist*innen durchaus in der Lage sind, kreativ zu denken und zu arbeiten, wenn man sie explizit dazu auffordert und ermutigt. Solche Untersuchungen sind natürlich immer mit einer gewissen Skepsis zu betrachten, da sie wie in diesem Fall auch, oft auf den Erkenntnissen eines einzelnen Forschers beruhen.

Außerdem erfährt man viel über pädagogische Methoden, wie den TEACCH- oder ABA-Ansatz – beides Konzepte, die Menschen mit Autismus fördern sollen. Im therapeutischen Kontext muss man sich häufig für einen dieser Ansätze entscheiden, wir Sozialpädagog*innen haben hier glücklicherweise etwas mehr Flexibilität. Generell hat sich der Umgang mit Autist*innen stark verändert. Wo früher vor allem mit negativen Verstärkern gearbeitet hat, versuchen wir heute, positives Verhalten zu belohnen – eine klassische Konditionierung, die sich jedoch bewährt.

 

Welche Vorurteile gibt es im Zusammenhang mit Autismus, die Sie nach Ihrer Erfahrung gerne widerlegen würden?

Grundsätzlich halte ich unsere Gesellschaft für ziemlich aufgeklärt, was das Thema betrifft. Es gibt dazu ja auch jede Menge nützliches Wissen im Internet. Was sich jedoch hält, ist das Vorurteil, dass Autist*innen keine oder nur wenig soziale Interaktion suchen. Das ist jedoch eine oberflächliche Betrachtung. Menschen mit ASS brauchen zwar sehr viel länger, um Kontakt zu einer Person aufzunehmen - manchmal braucht es dafür mehrere Anläufe - aber sie tun es auf ihre ganz eigene Art. Sie werden möglicherweise keinen oder nur sehr kurzen direkten Augenkontakt suchen, sich von ihrem Gegenüber abwenden und manchmal auch aggressiv reagieren, aber sie wünschen sich genauso menschliche Beziehungen wie neuronormative Menschen.

Wichtig zu verstehen ist, dass es für Menschen mit ASS schwer bis unmöglich ist, Empathie zu empfinden, das heißt, sie können sich nicht in andere Perspektiven hineinversetzen. Dadurch wirken sie oft unsicher oder unsensibel, weil sie in der zwischenmenschlichen Kommunikation keinerlei Filter kennen. Das kann natürlich zu Problemen mit dem Umfeld führen, ist aber letztlich kein Ausdruck eines mangelnden Bindungsbedürfnisses. Wenn ich mir etwas wünschen könnte, dann wäre es, dass neurodivergente Menschen weniger als Außenseiter betrachtet werden, sondern wir versuchen, ihre Wahrnehmung der Welt mehr zu verstehen.


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