20 Jahre Wohnhaus Billstedt

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Im September 2023 feiert das Wohn- und Assistenzangebot an der Billstedter Hauptstraße sein 20-jähriges Jubiläum. Wir blicken zurück auf zwei bewegte Jahrzehnte, die Entwicklung der Klient*innen und Mitarbeitenden. Assistenzteamleitung Dagmar Krieg und Mitarbeiter Stefan Wilkenshoff berichten aus ihrer langjährigen Tätigkeit im Wohnhaus.

Die alte Stadtvilla in Billstedt ist vielen Anwohner*innen bekannt. Wann und wie wurde diese zum Wohnhaus für Menschen mit Behinderung?

Wilkenshoff: Ursprünglich war in dem Haus die alte Billstedter Polizeiwache. Aus dieser Zeit haben wir ein altes Foto geschenkt bekommen, auf dem noch die typischen Ford Taunus vor dem Haus parkten. Danach gehörte das Gebäude lange Zeit der GWG – da war hier eine Beratungsstelle. Unserem Einzug 2003 gingen fünf Jahre Planung voraus, in denen unter anderem das Dachgeschoss als Wohnraum ausgebaut wurde.

Krieg: Es zogen damals vier Menschen mit Unterbringungsbeschluss aus Alsterdorf im Erdgeschoss ein. Die übrigen sieben kamen direkt aus dem Stadtteil und hatten bis dato noch keine Betreuung bekommen. Im ersten Stock gibt es eine WG für vier Personen, im Dachgeschoss eine Dreier-WG.

Wie liefen die ersten Jahre nach dem Einzug?

Wilkenshoff: Wir haben uns viel Zeit genommen, uns kennenzulernen und ein Setting zu kreieren, in dem sich alle Klient*innen und Mitarbeitende wohlfühlen. Das bedeutete auch, immer wieder offen für Veränderung zu sein. Bald wurde zum Beispiel deutlich, dass das Erdgeschoss für die vier Menschen mit Unterbringungsbeschluss – das sind Menschen, die ein akut selbstgefährdendes Verhalten zeigen und demzufolge nur in Begleitung das Haus verlassen dürfen – zu wenig Raum bot. Zwei von ihnen, mit einem hohen Bewegungsdrang, sind folglich nach Schleswig-Holstein gezogen, wo sie mehr Freiheit hatten, sich im öffentlichen Raum ohne direkten Straßenverkehr zu bewegen. Der vierte von ihnen wohnt noch heute hier. Für ihn ist die soziale Anbindung im Wohnhaus sehr wichtig.

Krieg: Für uns war es außerdem ein Gewinn, als die Leistungsvereinbarung der Ambulanten Assistenz Hamburg abgeschlossen wurde - eine ambulante Form der Assistenz, die von Mitarbeitenden unseres Wohnhauses erbracht wird. Wir erschlossen nach und nach 19 weitere Wohnungen im Stadtteil und vergrößerten damit unser Angebot. Als kleines Wohnhaus wären unsere Leistungen ansonsten wenig rentabel gewesen.

Wie ist die aktuelle Raumverteilung im Haus?

Krieg: Auf der unteren Etage wohnen noch zwei Menschen mit Unterbringungsbeschluss, eine Frau mit hohem Sicherheitsbedürfnis und ein älterer Herr. Im ersten Stock wohnen vier junge Männer mit sehr homogenen Unterstützungsbedarf. Die sind hier im Stadtteil aufgewachsen und kennen sich schon aus der Schule Bekkamp. Auch sonst haben sie viele Überschneidungen. Ihr gemeinsames Hobby ist das Zocken (lacht). Im Dachgeschoss ist unsere Individualisten-WG. Diese drei Menschen sind sehr extravertiert und viel unterwegs, empfinden ihre WG aber als sicheren Hafen. Dann haben wir noch eine Einliegerwohnung. Die haben wir für jemanden gebaut, dem wegen Ruhestörung seine ehemalige Wohnung gekündigt wurde. Für ihn haben wir extra, bisher nicht genutzte Räume umgebaut. Leider lebt er inzwischen nicht mehr. Stattdessen wohnt dort jetzt ein junger Mann, dem es in seiner vorherigen WG zu trubelig war. Für ihn ist es perfekt, zwar die Anbindung ans Wohnhaus zu haben, aber sich dennoch ganz zurückziehen zu können.

Was ist das Besondere an eurem Haus?

Wilkenshoff: Ich empfinde die Zusammensetzung unserer Klientinnen als besonders. Die Atmosphäre und das Miteinander sind toll – auch im Team. Wir bieten viele Freizeitangebote an. Jeden Oktober machen wir eine Urlaubsmesse, bei der man zwischen vier bis fünf verschiedenen Urlaubsangeboten auswählen kann, was man machen möchte – entweder nach Reiseziel oder anderen Teilnehmenden. Von Ratzeburg bis Tunesien ist alles dabei. Dieses Jahr war eine Gruppe zum Beispiel in Norwegen.

Krieg: Wir begleiten unter anderem eine Roma-Familie, die sich eine Reise nach Montenegro gewünscht hat. Auch das war dann Teil des Angebots.

Wilkenshoff: Im Alltag fahren wir außerdem auch mal auf Konzerte oder besuchen den Kiez. Einmal pro Woche gehen wir mit einigen Klient*innen zum Walking Football Training. Anfänglich war es etwas schwierig, die Menschen zum regelmäßigen Sport zu motivieren. Das führte dazu, dass drei Mitarbeitende die Klient*innen nicht nur begleiten, sondern selbst Teil der Mannschaft geworden sind.

Das menschliche Miteinander steht also an erster Stelle?

Krieg: Absolut! Die Entwicklung unserer Klient*innen ist unser größter Erfolg. Man muss dazu sagen, dass unsere Bewohner*innen ziemlich mobil sind und sich größtenteils selbstständig im Stadtteil bewegen können. Ein Klient hatte kurz nach seinem Einzug wahnsinniges Heimweh. Mittlerweile ist er total in der Gemeinschaft angekommen und fährt bei jedem Ausflug mit. Auch hat er damals öfter mit autoaggressivem Verhalten reagiert, wenn er etwas nicht wollte. Heute kann er dies einfach äußern.

Wilkenshoff: Unser Team ist in den letzten zwanzig Jahren immer mehr zusammengewachsen, obwohl es auch  Fluktuation gab. Wir sind eine bunte Mischung von Kolleg*innen ab Mitte zwanzig bis Anfang sechzig. Jede Meinung ist gleich wertvoll. Es gibt eine hohe Einsatzbereitschaft und eine sehr offene Gesprächskultur.

Krieg: Wir versuchen unseren Mitarbeiter*innen außerdem immer neue Fortbildungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Mindestens zweimal im Jahr gibt es einen Team-Tag, bei denen uns externe Berater*innen besuchen. Darüber hinaus haben wir viele Kolleg*innen mit zusätzlichen Qualifikationen. Stefan ist beispielsweise Deeskalationstrainer, eine andere Kollegin arbeitet als Fachberaterin für das Thema Unterstützte Kommunikation. Dann gibt es noch eine Assistentin, die eine Ausbildung in traumasensibler Pädagogik absolviert hat und eine Fachkraft für Fetales Alkoholsyndrom. All diese Kompetenzen haben sie im Rahmen ihrer Arbeit bei uns on top erworben. Davon profitiert das gesamte Team.

Wofür engagiert ihr euch außerdem?

Krieg: Wir stellen regelmäßig Spendenanträge bei Aktion Mensch oder anderen Organisationen. Davon haben wir bereits eine Boccia-Bahn, eine Rikscha und das neue Sonnensegel für unserer Terrasse finanziert. Bald kommt voraussichtlich noch ein Tandem dazu. Ich bin immer wieder erstaunt und dankbar, was alles möglich gemacht wird, wenn man nur danach fragt. Die Bowlingbahn zum Beispiel ist eine riesen Bereicherung für unsere Klient*innen, die regelmäßig an den Boccia-Turnieren in der Barakiel Halle teilnehmen und dadurch realistischere Aussichten haben, nicht immer Letzte zu werden (lacht).
Außerdem haben wir vor einiger Zeit erfolgreich einen Antrag auf Förderung einer digitalen Kompetenzschulung gestellt. Seitdem kommt regelmäßig ein Student zu uns, der einige Klient*innen dabei unterstützt, mit digitalen Geräten umzugehen – also auch digitale Teilhabe zu ermöglichen.

Wilkenshoff: Wichtig zu sagen ist auch noch, dass ein Engagement für die Klient*innen ganz unterschiedlich aussehen kann. Manchmal ist es ein Urlaub. Manchmal ist es auch einfach nur, sich eine halbe Stunde neben jemanden auf’s Sofa zu setzen und ihm beim Zocken zuzusehen, bis er sich öffnet und seine Anliegen vorbringt. Auch das gehört zu unserer Arbeit und wird von keinem im Team kritisiert.

Krieg: Das schönste Feedback ist eigentlich das, was wir aus den Werkstätten der Klient*innen bekommen. Unsere Mitarbeiter*innen sind gut mit den Betrieben vernetzt und hören immer wieder, wie zufrieden diese mit dem guten Kontakt zu den Assistentinnen und der Qualität der Unterstützung sind. Auch werten wir es als Erfolg, wenn Klient*innen eines Tages ausziehen, weil sie unsere Unterstützung nicht mehr benötigen. Ein ehemaliger Bewohner ist mittlerweile verheiratet, lebt in seiner eigenen Wohnung und arbeitet als LKW-Fahrer. Solche Geschichten machen uns auch nach zwanzig Jahren immer wieder stolz.

Interviewpartnerin

Dagmar Krieg
Assistenzteamleitung

Telefon:

040. 23 80 42 40

Mobil:

0172. 100 13 34


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