Was macht eigentlich ein*e Deeskalationstrainer*in?

Zurück

Haben Sie sich schon einmal die Frage gestellt, was sich eigentlich hinter dem spannenden Begriff „Deeskalationstraining“ verbirgt? Was auf den ersten Blick vielleicht wie eine etwas brachiale Selbstverteidigungsmethode klingt, ist eigentlich ein umfassendes Kompetenztraining für alle Berufsgruppen, die mit Menschen zusammenarbeiten und ihren Umgang mit eben diesen professionalisieren wollen. Im Interview berichten unsere Trainer*innen Stefan Wilkenshoff, Rüdiger Zobel und Sina Hamzi, was genau die Fortbildung für sie und ihre Teilnehmer*innen so bereichernd macht. 

Was genau muss man sich unter einem Deeskalationstraining vorstellen?

Wilkenshoff: Die meisten Menschen assoziieren Deeskalation mit körperlichen Abwehrtechniken. Das ist aber nur ein Baustein. Es geht vor allem um das Erkennen und Entschärfen von Gefahrensituationen – also Prävention.

Hamzi: Der erste Gedanke unserer Teilnehmer*innen ist oft: Ich muss mich kloppen oder mich den ganzen Tag mit Aggressionen auseinandersetzen.

Wilkenshoff: Eigentlich geht es bei unseren Trainings viel mehr darum zu verstehen, was Menschen eigentlich zu aggressiven Handlungen nötigt. Hierbei spielt u.a. die Entwicklungspsychologie eine Rolle. Wenn ich weiß, in welchem geistigen Entwicklungsstadium sich ein Klient/ eine Klientin befindet, fällt es mir leichter, mich auf sie oder ihn einzuschwingen und Gewaltausbrüche zu verhindern.

Nach welchem Konzept gehen Sie vor?

Wilkenshoff: Der Anbieter des Kompetenztrainings nennt sich Prodema (für professionelles Deeskalationsmanagement). Dieser ist mittlerweile europaweit tätig und anerkannt. Das Training ist auf verschiedene Sparten spezialisiert, darunter auch die Eingliederungshilfe.
Prodema geht von sieben Stufen der Eskalation aus. Die ersten befassen sich mit präventiven Maßnahmen. Da geht es um Ursachenforschung, aber auch um meine eigene Einstellung sowie strukturelle Bedingungen. In der sekundären Phase ist mein Gegenüber schon richtig aufgebracht. Hier lerne ich z.B. laut zu sein, um mir Gehör und Respekt zu verschaffen. Ich lerne aber auch, den anderen abzuholen und zu vermitteln: Ich bin für dich da. Es ist in Ordnung, dass du sauer bist.
Als letztes kommt dann die Lösungsphase, also die Frage: „Was brauchst du jetzt?“

Zobel: Es gibt auch ganz allgemeine, wesentliche Grundlagen, die ich berücksichtigen kann, z.B. meine eigene Wertfreiheit. Jeder Mensch hat das Recht, wütend oder traurig zu sein. Es kann hilfreich sein, diese Gefühle zu spiegeln. „Ich sehe, du bist ziemlich aufgebracht…“. Dadurch fühlt sich der andere gesehen und ernst genommen. Wir fragen nicht: „Warum bist du wütend? Sondern: „Was hat dich wütend gemacht?“. Dahinter verbirgt sich eine ganz andere Botschaft.

Wie läuft so ein Training ab?

Hamzi: Wir bieten das Training als Block an drei aufeinanderfolgenden Tagen an. Neben dem klassischen Deeskalationstraining lassen wir hier auch die Inhalte unserer Zusatzausbildung als kollegiale Ersthelfer*innen einfließen. Da geht es noch nicht um Analyse, sondern um Zuhören und Seelsorge. Erst im Anschluss spricht man über die Hintergründe und Selbstreflexion.

Zobel: Die Trainings finden in Volksdorf im Tagungshaus Rockenhof statt. Pro Block können wir 12-15 Teilnehmer*innen schulen.

Wilkenshoff: In den drei Tagen geht es sowohl um theoretische Wissensvermittlung als auch um praktische Übungen, z.B. sogenannte schonenden Abwehr- und Fluchttechniken. Besonders beliebt bei den Teilnehmer*innen sind die Rollenspiele, bei denen eine*r in die Rolle desjenigen schlüpft, der eskaliert. Das klingt erstmal skurril, macht aber unglaublich viel Spaß!

Zobel: Als ich das erste Mal diese Rolle eingenommen habe, habe ich richtig gemerkt, wie mein Puls angestiegen ist und ich mich in die Situation reingesteigert habe. Diese Erfahrung ist extrem wertvoll, wenn man versuchen will, Menschen in diesem Stadium zu erreichen.

Hamzi: Das Ganze zeichnen wir auch auf Video auf, damit man die Situation nachbesprechen kann. Diese Einheit ist immer super lebendig!

Für wen ist so ein Deeskalationstraining relevant?

Wilkenshoff: Wir finden, dass das Deeskalationstraining eigentlich verpflichtend für alle Mitarbeiter*innen sein sollte, weil man die Fertigkeiten wirklich überall anwenden kann – zum Beispiel auch im privaten familiären Kontext oder im Büro, wenn ich regelmäßig mit cholerischen Kolleg*innen umgehen muss. Es gibt aber natürlich Bereiche, für die das Deeskalationstraining besonders wertvoll ist. Wir bekommen regelmäßig Feedback von Leitungen, in welchen Teams bzw. Wohnhäuser besonders großer Bedarf aufgrund herausfordernder Verhaltensweisen ist. Diese priorisieren wir natürlich.

Zobel: Für gewöhnlich versuchen wir in unseren Teilnehmer*innengruppen verschiedene Teams zu durchmischen. Es bereichert sehr, es auch mal eine Meinung außerhalb des eigenen Teams zu hören. In jedem Fall versuchen wir, eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, damit man ermutigt ist, über seine eigenen Anteile zu reflektieren.  Ich denke, es ist auch von Vorteil, dass wir selbst aus der Praxis berichten können. So begegnet man sich auf Augenhöhe.

Wie sind Sie selbst dazu gekommen, Deeskalationstrainer*in zu werden?

Wilkenshoff: Rüdiger und ich haben die Trainerausbildung 2010 zusammen gemacht. Wir beide hatten zuvor initiativ Interesse bei unseren jeweiligen Leitungen bekundet – ohne, dass wir uns zu diesem Zeitpunkt kannten. Matthias Schuffenhauer, der damals für Personalentwicklung zuständig war, hat diese Bedarfe dann sozusagen gebündelt und uns gemeinsam die Ausbildung ermöglicht.

Zobel: Wir hatten damals keine Ahnung, dass wir selber Kolleg*innen schulen würden. Erst im Laufe der Ausbildung wurde klar, dass für ein erfolgreiches Zertifikat eine Implementierung innerhalb des eigenen Unternehmens vorgeschrieben war. Also haben Stefan und ich uns zusammengesetzt und überlegt, wie man ein solches Programm in der aaost einführen kann.

Hamzi: Ich habe 2013 das erste Mal ein Training bei Stefan und Rüdiger mitgemacht und war sofort angefixt! Als eine dritte Kollegin aus dem Team ausschied, habe ich mich entschieden, selbst die Trainerausbildung zu machen. Ich bin also noch ganz frisch dabei.

Was passiert, nachdem ich die Trainings besucht habe?

Wilkenshoff: Aktuell gibt es da leider noch keinen standardisierten Prozess, was auch an unseren eingeschränkten Ressourcen liegt. Auf Nachfrage kommen wir aber gerne in Teams, um zum Beispiel einen konkreten Problemfall zu besprechen und zu beraten. Uns ist allerdings wichtig, dass die Teams im Vorfeld an unserem Training teilgenommen haben, damit beide Seiten wissen, wo sie ansetzen können.

Zobel: Oft hilft es schon, wenn wir kommen und zuhören. In den Gesprächen betrachten wir verschiedene Deeskalationsaspekte, z.B. auslösende Reize, Ursachen, etc. Wir lassen uns auch die Hintergründe und Biographien der Konfliktbeteiligten erzählen und forschen nach persönlichen Anteilen. Manchmal vermitteln wir auch an andere Beratungsstellen weiter.

Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse nach dreizehn Jahren?

Hamzi: Für mich war die wichtigste Erkenntnis, dass Deeskalation absolut alltagsrelevant ist und nicht nur Härtefälle betrifft. Manchmal reicht es schon, dass der Lieblings-Assistent krank ist, damit Unzufriedenheit und schlechte Stimmung im Wohnhaus entsteht. Das rechtzeitig zu erkennen und auffangen zu können, ist unser tägliches Brot.

Wilkenshoff: Was mir außerdem wichtig zu vermitteln ist, ist dass man seine Persönlichkeitsrechte am Arbeitsplatz keinesfalls abgibt. Ich darf eine*n gewalttätige*n Klient*in anzeigen und ich darf mich in einer Notsituation auch körperlich verteidigen. Und es ist total wichtig, in unberechenbaren Situationen die Polizei zu rufen. Ich empfehle jedem Team, sich bei der örtlichen Polizeiwache bekannt zu machen, damit diese gleich Bescheid weiß, mit welchen Menschen sie es ggf. zu tun bekommt.

Zobel: Das betrifft vermutlich vor allem die Pädagog*innen- aber ich betone immer wieder, dass die Deeskalation situativ wichtiger ist als pädagogische Ziele. Natürlich gibt es gute Gründe, warum der Mensch mit Übergewicht und Diabetes nicht die ganze Torte essen sollte. Aber wenn ich damit verhindere, dass er Möbelstücke aus dem Fenster wirft, sind diese Argumente einfach zweitrangig.

Vielleicht noch ein Quick-Tipp?

Hamzi: Sich trauen, auch mal laut zu werden!

Zobel: Oft ist aktives Zuhören und verständnisvoll reagieren wichtiger, als sofort irgendwelche Konsequenzen zu ziehen. Wichtig ist auch, dass das ganze Team über den Vorfall informiert wird. So kann man das Geschehene gemeinsam nachbereiten und die Situation auch im Gespräch mit anderen Klient*innen professionell einordnen.

Wilkenshoff: Es ist hilfreich, sich bestimmte Verhaltens- und Reaktionsregeln anzuerziehen. Wenn das Adrenalin nämlich einmal hochgekocht ist, fällt einem nichts mehr ein. Und ganz wichtig: Das Verhalten muss sowohl für einen selbst als auch die andere Person angemessen und authentisch sein. Alles andere ist Pädagog*innen-Gelaber!


Weitere Berichte

06.05.2024

Fotoausstellung im Café JETZT

Bewundern Sie die Fotoausstellung unserer Klient*innen noch bis zum 8. Juni 2024!

22.04.2024

„Hier zählt Ausdruck, nicht Akribie!“

Die Tagesförderung Haus am See im ruhigen Stadtteil Rahlstedt hat nicht nur eine besondere Lage, sondern auch ein besonderes Konzept. Elf Klientinnen kommen hier von montags bis freitags zusammen, um gemeinsam zu lernen,