„Ich bin die Chronistin unserer Klient*innen“

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Mitarbeiterin Margarethe Reimers verabschiedet sich nach 48 Jahren Stiftungsarbeit in den wohlverdienten Ruhestand. Mit 14 begann sie ihre Ausbildung zur Kinderpflegerin in den damaligen Alsterdorfer Anstalten. Seitdem hat sie unzählige Projekte umgesetzt und die Auflösung der Anstalten mitgestaltet. Das Gespräch mit ihr ist nicht nur eine persönliche Geschichte, sondern auch ein Zeitzeugenbericht aus fünf Jahrzehnten Eingliederungshilfe.

 

Wie geht es Ihnen, kurz bevor Sie die Stiftung nach 48 Jahren verlassen?

Ich verabschiede mich mit gemischten Gefühlen. Ich bin seit 1975 in der Stiftung. Der Abschied fällt mir nicht leicht, aber ich freue mich auf das, was kommt. In den letzten Wochen war ich noch ziemlich am Rotieren, weil gefühlt noch so viel geregelt werden musste. Zum Glück wird es kein ganz harter Ausstieg – ich bleibe dem Ressort Unterstützte Kommunikation (UK) noch eine Weile auf 520 Euro-Basis erhalten.

Wir schreiben das Jahr 1975. Wie sind sie damals in die Stiftung gekommen?

Ich war damals 14 Jahre alt und lebte auf der Insel Fehmarn. Mein Vater wünschte sich, dass ich eine Ausbildung zur Standesbeamtin mache. Darauf hatte ich aber gar keine Lust. Eine Bekannte aus dem Nachbardorf erzählte mir, dass sie eine Ausbildung zur Kinderpflegerin (heute heißt es Sozialassistenz) in Alsterdorf mache und schwärmte von der Stiftung als Arbeitgeber. Mit Kindern zu arbeiten konnte ich mir damals gut vorstellen. Die Auszubildenden wohnten damals noch in einem Internat, dem „Haus in der Sonne“, auf dem Stiftungsgelände – ohne diese Unterbringungsmöglichkeit hätten meine Eltern mich niemals allein nach Hamburg ziehen lassen.

Wie verlief die Ausbildung zur Kinderpflegerin?

Die Ausbildung dauerte drei Jahre, eineinhalb Jahre spezialisiert auf das gesunde und eineinhalb auf das behinderte Kind. Zur Ausbildung gehörte die Arbeit in Alsterdorf. Ich habe gleich zu Anfang an den Nachmittagen, Wochenenden und in den Schulferien im Krankenhaus gearbeitet. Ich arbeitete auf der Chirurgie II, der Gynäkologie und im Altenheim. Im dritten Ausbildungsjahr (das Anerkennungsjahr), arbeitete ich im Haus „Bethlehem“. Dort lebten Kinder zwischen 2 Jahren und 6 Jahren. Mein Kindergartenpraktikum habe ich im Betriebskindergarten im Heinrich- Sengelmann Krankenhaus in Bargfeld - Stegen gemacht.

Wie ging es nach Ihrer Ausbildung weiter?

Nach dem Anerkennungsjahr habe ich zunächst im Michelfelder Kinderheim, einem Wohnangebot für Menschen mit Behinderung, gearbeitet. Den Umzug der Klient*innen in das neue Wilfried-Borck-Haus habe ich mitbegleitet. 1981 berichtete eine Kollegin, dass in der neuen Sonderschule der Stiftung Unterrichtshilfen gesucht werden. Ich habe dann zehn Jahre als Unterrichtshilfe in der Sonderschule (später Bugenhagen Schule) gearbeitet. Meine Kolleg*innen und ich haben 12 Klassen für schwerst-mehrfach-behinderte Kinder aufgebaut. So viele gab es damals in ganz Hamburg nicht. Später dann wurde das Schulsystem zu einer Integrationsschule gewandelt, in der auch Kinder ohne Behinderung unterrichtet werden sollten.

Ab diesem Zeitpunkt haben meine Kollegin und ich uns entschieden, eigene Wege zu gehen und etwas Neues aufzubauen. Es war die Zeit, in der sich die Alsterdorfer Anstalten langsam auflösten und sich mehr und mehr dezentralere Angebote entwickelten. Das Wohnhaus in Wohldorf war Anfang der Achtziger das erste, welches abseits des Stiftungsgeländes bezogen wurde. Um die dort lebenden Menschen mit Behinderung zu fördern, hätten sie jedoch weiterhin nach Alsterdorf gefahren werden müssen. Das wollten wir ändern. Also bauten wir mit Zuspruch der damaligen Leitung eine Tagesförderung in Wohldorf auf. Wir waren anfänglich zwei Mitarbeitende und acht Klient*innen.

Sie haben also den Umbruch der Alsterdorfer Anstalten aktiv mitgestaltet?

Wir waren wirklich wahnsinnig euphorisch! Seit 1979 wollten wir die Mauern und Zäune um das Stiftungsgelände durchbrechen. Man kann sich das gar nicht mehr vorstellen. Dort, wo heute das Kesselhaus ist, war damals die zentrale Wäscherei. Im Haus Bethlehem habe ich erlebt, dass wir in die Kleidung der Klient*innen Nummern einnähen mussten, damit sie den einzelnen Personen zugeordnet werden konnten. Rote Nummern standen für weibliche, blaue für männliche Klient*innen. Gruselig war das!

Als Wohngruppenmitarbeiter*innen hätten wir 1980 gerne eine familiäre Wohnstruktur aufgebaut, mit kleinen Wohneinheiten, in denen maximal fünf oder sechs Menschen wohnen. Wir hatten nämlich festgestellt, dass die Klient*innen wie ausgewechselt waren, wenn sie in Kleingruppen mit uns auf einer Freizeit, z.B. in Dänemark, waren. Wir wollten außerdem, dass die Eltern und das soziale Umfeld der Klient*innen stärker einbezogen werden. Und wir wollten, dass jeder Mensch, eine individuelle Förderung erhält. Für diese Überzeugung haben wir gebrannt!

Wie ging es in Wohldorf weiter?

Von 1991 bis 1998 habe ich in der Tagesförderung gearbeitet und das Angebot sukzessiv weiterentwickelt. 1994 habe ich berufsbegleitend meine Ausbildungen zur Heilerzieherin (heute: Heilerziehungspflegerin) und 1996 zur Heilpädagogin gemacht. Einen Teil der Ausbildungskosten hat die Stiftung getragen. Dafür bin ich sehr dankbar.
Auch innerhalb der Stiftung ist in dieser Zeit viel passiert. 1994 wurde der Tanker Alsterdorf in kleinere Katamarane aufgeteilt. Zudem wurden in Schleswig-Holstein und Niedersachsen Angebote aus dem Umland erschlossen.

1998 verließen weitere Klient*innen das Stiftungsgelände. Es zogen u.a. Menschen mit herausforderndem Verhalten (ehemals Haus Hohenzollern) als auch Menschen mit hohem Assistenzbedarf (ehemals: Haus Betlehem), in den Geschäftsbereich „Hamburgumland“. Ab da habe ich als Fachdienstmitarbeiterin die Kolleg*innen in den Tagesförderung beim Umgang mit den neuen Klient*innen beraten.
Seit 2002 betreue ich außerdem den Kooperationsvertrag mit der alsterarbeit. Das betrifft die Klient*innen aus Neundeich und Gut Stegen, die in den Werkstattbetrieben arbeiten. Diese Aufgabe hatte ich bis zum Ende meiner Laufbahn inne.

 

2005 wurden die gGmbHs gegründet, im Jahr 2010 kam dann ja bereits die nächste Umstrukturierung…

Genau. 2010 ging die alsterdorf assistenz umland gGmbH und somit auch meine Stelle auf die alsterdorf assistenz ost über. Wir bekamen also eine neue Geschäftsführung, neue Arbeitsplätze, alles wurde auf links gedreht. Meine Kolleg*innen und ich hatten bis dato unermüdlich gearbeitet – plötzlich musste wir uns erneut die Anerkennung bei unseren neuen Vorgesetzten erarbeiten. Zum Glück habe ich meine Projekte immer eigenständig vorangetrieben und auch proaktiv bei meinen Chefs für Unterstützung geworben. Das hat sich immer positiv auf meine Laufbahn ausgewirkt.

Wie kamen Sie zu ihrem zweiten Ressort, der Unterstützten Kommunikation?

2017 hat Stef Burmeister meine Kollegin Isabella Czernetzki gebeten, ein Konzept zum Thema UK zu erstellen. Wir hatten keine Ahnung, was das ist. Isabella hat dann ein Konzept entwickelt. Im Zuge dessen, habe ich mich kurzerhand entschieden, die Weiterbildung zur Fachberaterin für Unterstütze Kommunikation zu machen. „Weiterbildung ist immer gut“, dachte ich mir. Schon während der Weiterbildung habe ich mir überlegt, wie man das Thema in der Firma implementieren könnte.

Wir haben zunächst drei Ziele verfolgt:
1. Alle Mitarbeiter*innen wissen, was UK ist. Dafür brauchen sie sowohl Fachwissen als auch die Umsetzungskompetenz. Beides erlangen sie heute im Rahmen der Multiplikator*innen Schulungen, die wir anbieten.
2. Wir bauen eine Fachberatung auf, die diesen Prozess flankierend unterstützt. Erst wollten wir eine Beratungsstelle einrichten, heute bin ich der Überzeugung, dass eine dezentrale kollegiale Beratung der effizientere Weg ist.
3. Das Ganze soll mit der ESA-UK verknüpft werden, damit Synergieeffekte zwischen der Holding und den Tochtergesellschaften entstehen können.

Außerdem wollen wir Mitbewohner*innen und Angehörige stärker mit dem Thema vertraut machen.  Wir wollen Formulare wie die Assistenzplanung so aufbauen, dass sie auch Klient*innen verstehen. Das klappt schon ganz gut beim Thema Informationspflicht, z.B. bei den Wochenplänen in den Wohnhäusern. Meine letzte Umfrage hat ergeben, dass wir in der alsterdorf assistenz ost bereits 260 Mitarbeitende haben, die UK anwenden oder und/ oder sogar bereits eine Fortbildung gemacht haben. Zum Vergleich: Zu Beginn des Projekts waren es gerade mal 56. Das exakte Wissen kann man zwar nicht messen, das ist eher eine gefühlte Kompetenz. Aber als Heilpädagogin arbeite ich schließlich auch mit Gefühlen (lacht).

Was begeistert Sie so an UK?

Es ist eine Kompetenz, die mir Jahrzehnte lang gefehlt hat. Schon 1991 bin ich an dem Versuch gescheitert, die Vorlieben einer Klientin herauszufinden. Wenn ich ihr verschiedene Alternativen aufgezählt habe, z.B. „Möchtest du Wasser, Tee oder Kaffee?“, hat sie immer mit dem geantwortet, was ich als Letztes gesagt habe. Der Wunsch, dass Klient*innen eine echte Wahl haben, hat mich in all den Jahren nie losgelassen. Nun habe ich ein Werkzeug, um mit den Menschen zu kommunizieren, die sich verbal nicht oder nur eingeschränkt ausdrücken können. Außerdem habe ich gelernt, Menschen zu lesen und für sie zu übersetzen.

Haben Sie selbst nie eine Führungsposition angestrebt?

Nein! Ich war mal für einige Monate Interimschefin und habe in dieser Position dafür gesorgt, dass die Assistenzteams der Tagesförderungen eine eigene Teamleitung bekommen. Das war eine spannende Erfahrung, aber dauerhaft habe ich mich nicht in dieser Rolle gesehen. Ich hatte keine Lust auf die damit einhergehende Personalpolitik. Es ging mir auch nie darum, mehr Geld zu verdienen - obwohl ich wie alle Menschen natürlich auch für Geld arbeite. Aber vor allem bin ich dankbar, dass ich helfen und gestalten darf. Ich glaube, ich war immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Außerdem wäre mit einer Führungsposition auch der direkte Kontakt zu den Klient*innen weggefallen. Es gibt Menschen, die begleite ich seit ihrem dritten Lebensjahr. Ich sage gern: „Ich bin die Chronistin unserer Klient*innen.“, weil ich mich zum Teil besser als sie daran erinnere, in welchem institutionellen Rahmen sie groß geworden sind. Wenn also heute ein erwachsener Mann vor mir steht, der damit überfordert ist, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen, dann sehe ich immer auch seine persönliche Geschichte – z.B. dass er in einer Anstalt aufgewachsen ist, in der es damals noch wenig um Individualisierung ging.

Gleichzeitig halte ich wenig davon, den Klient*innen irgendein innovatives pädagogisches Konzept aufzuerlegen. Ein Mitarbeiter sagte einmal zu mir, er wolle, dass sein Klient motivierter zur Arbeit gehe. Im Gespräch mit dem Klienten erfuhr ich, dass dieser gar nicht motiviert werden wollte, sondern lediglich in der Werkstatt arbeitete, um Geld zu verdienen. Das finde ich absolut legitim.

Was sollte man ihrer Meinung nach für die Arbeit mit Menschen mit Behinderung mitbringen?

Was die Eingliederungshilfe braucht, sind Menschen, die sich mit ihrer Arbeit identifizieren und ein Herz für die Klient*innen haben. Das geht natürlich nicht immer mit den heutigen Ansprüchen nach Flexibilität und Work-Life-Balance überein. Klar, wir haben früher unsere persönlichen Grenzen ganz schön gedehnt. Wir haben sogar Klient*innen mit nach Hause genommen, um ihnen zu zeigen, was echte Häuslichkeit bedeutet. Ich verstehe schon, dass man sich hier eine klare Abgrenzung wünscht.

Es gibt jedoch noch so vieles, was man bei dieser Arbeit lernen und bewegen kann. Ich denke, wir sind bereit für eine neue Generation engagierter Mitarbeiter*innen, die sich mit ihren eigenen Ideen einbringen. Ich stehe für die Auflösung der Anstalten und Selbstermächtigung der Klienten. Die Nachfolger*innen müssen herausfinden, wie die Klient*innen nachhaltig in der Gesellschaft verankert werden können. Da gibt es noch einiges zu tun!

Worauf freuen Sie sich mit Eintritt in die Rente am meisten?

Auf die Entzerrung des Alltags! Endlich mal unter der Woche etwas zu unternehmen oder einfach nur eine Stunde länger zu schlafen. Mein Mann ist seit 23 Jahren in Rente und wartet auf mich. Er steht immer mit mir auf und macht mir Frühstück. Für mich ist die Rente ein neues spannendes Abenteuer. Dann habe ich genügend Zeit für meine Hobbies, meinen Sport – vielleicht noch ein paar VHS-Kurse. Langweilig wird es mir jedenfalls nicht!

 


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